25.02.2025
Betrifft: Schwere menschenrechtliche Bedenken gegen geplante „anlasslose Massenüberprüfungen“
Kurzzusammenfassung: Anlasslose Massenüberprüfungen von Asylwerbenden und Asylberechtigten sind in Österreich sowohl verfassungsrechtlich als auch europarechtlich nicht zulässig. Sie verstoßen gegen das Gleichbehandlungsgebot, das Legalitätsprinzip, das Verhältnismäßigkeitsprinzip und mehrere Grundrechte sowie das Diskriminierungsverbot. Darüber hinaus haben sie schwerwiegende psychologische und gesellschaftliche Folgen, da sie Angst und Marginalisierung verstärken und grundlegende rechtsstaatliche Prinzipien infrage stellen. Aus den genannten Gründen ist ein solches Vorgehen daher entschieden abzulehnen und darüber hinaus mit Blick auf die innere Sicherheit nicht zu empfehlen.
Offener Brief zu geplanten “anlasslosen Massenüberprüfungen” von syrischen und afghanischen asylsuchenden und asylberechtigten Menschen in Österreich
Sehr geehrter Landesrat Ing. Pewny,
Bezugnehmend auf die Berichterstattung Anfang letzter Woche und den von Ihnen in Reaktion auf das Attentat in Villach vom 15.2. geforderten “anlasslosen Massenüberprüfungen”[1] von Menschen in der Grundversorgung des Landes Salzburg, wollen wir auf einige zentrale menschenrechtliche Aspekte hinweisen, die schon aufgrund der österreichischen Bundesverfassung und der Salzburger Landesverfassung Leitlinien des Handelns der Landesregierung sein müssen. Wir gehen dabei insbesondere auf Menschen aus Syrien und Afghanistan ein, da diese laut Medienberichten seitens des BM.I hier verstärkt im Fokus stehen.[2]
Zum 1. Jänner 2025 waren 104.677 Menschen aus Syrien[3], 2022 waren 45.120 Menschen mit afghanischer Staatsangehörigkeit[4] in Österreich wohnhaft gemeldet. Syrische und afghanische Menschen in Österreich sind im Schnitt vergleichsweise jung, knapp 62% bzw. 2/3 der Menschen sind jünger als 29 Jahre (Gesamtbevölkerung knapp 1/3). Gut 1/3 der Personen sind Frauen, diverse Geschlechtszugehörigkeiten werden nicht erfasst. Die absolute Zahl von syrischen und afghanischen Kindern in Österreich wird nicht genannt, lediglich die Kinderanzahl syrischer Frauen (1450 Neugeborene; 1,7% der gesamten Geburten) und afghanischer Frauen (859 Neugeborene; 1% der gesamten Geburten) im Jahr 2021. Knapp 7.000 Menschen (überwiegend weiblich) aus Syrien haben im Jahr 2024 einen Einreiseantrag im Zuge des Familiennachzugs gestellt, sowie gut 550 Menschen aus Afghanistan, ca. 70% der Antragsteller waren im 1. Quartal 2024 unter 18 Jahre (mehr als 2/3 0-6 Jahre).[5] Knapp 6.800 Menschen aus Syrien und 5.500 Menschen aus Afghanistan wurden seit 2013 eingebürgert[6], sie sind von den angekündigten „anlasslosen Massenüberprüfungen“ laut Medienberichten nicht betroffen („Asylwerber und Asylberechtigte“[7]). Es geht somit um ca. 140.000 Menschen österreichweit, über denen diese Androhung als Reaktion auf die Tat eines 23-jährigen Syrers wie ein Damoklesschwert hängt. Von diesen Menschen lebten 2022 ca. 6.600 Menschen im Salzburger Land (knapp 2/3 Syrer), in beiden Fällen lebten und leben knapp 50% der Menschen in Wien. Wie viele der Personen weder der Gruppe von asylwerbenden noch asylberechtigten Personen zugeordnet werden können – beispielsweise weil sie subsidiär Schutzberechtigt sind oder einen Aufenthalt nach dem Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (Rot-Weiß-Rot – Karte, Daueraufenthalt – EU) haben, lässt sich daraus noch nicht ableiten, der Anteil letzterer dürfte aber nicht wesentlich ins Gewicht fallen.[8]
Seit 2017 wurden drei islamistische Terroranschläge in Österreich mit insgesamt sieben Todesopfern verzeichnet (Linz, Wien, Villach).[9] Im letzteren Fall handelt es sich beim Attentäter um einen syrischen Staatsbürger mit Asylberechtigung. Diese Relationen gilt es sich bei aller Betroffenheit über den Tod eines 14-jährigen Kindes zu vergegenwärtigen.
Kollektive Verdächtigungen, sowie eine daraus abgeleitete Rechtfertigung eines schwerwiegenden Eingriffs in die Privatsphäre sind aus menschenrechtlicher Sicht strikt abzulehnen. Jeder Mensch hat gemäß Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention das Recht auf ein faires Verfahren. Ohne hinreichenden Anfangsverdacht stellt ein derart massiver Eingriff – wie die jederzeitig, anlasslos mögliche Überprüfung bis in die eigene Wohnung hinein – eine Verletzung der Privatsphäre der Menschen dar. Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention schützt das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens. Eine solche Maßnahme kann nicht als notwendig zur Aufrechterhaltung der Sicherheit angesehen werden und begründet daher einen unverhältnismäßigen und somit unzulässigen Eingriff in diese Rechte. Ein solches Vorgehen würde unbeteiligte Menschen ohne Anfangsverdacht und Beweislast unter Generalverdacht stellen, sie diffamieren und schädigen.
Darüber hinaus wäre ein solches Vorgehen in zweifacher Hinsicht diskriminierend: Einerseits aufgrund der Nationalität, andererseits aufgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe (Asylberechtigte). Laut Artikel 7 des Bundes-Verfassungsgesetzes sind alle Menschen vor dem Gesetz gleich.[10] Auch Artikel 14 der Europäischen Menschenrechtskonvention verbietet eine nicht auf sachlichen Gründen beruhende Ungleichbehandlung aufgrund persönlicher Eigenschaften. Darüber hinaus ist auch gemäß Artikel 21 der EU-Grundrechtecharta jede Diskriminierung aufgrund von Herkunft oder Aufenthaltsstatus untersagt. Eine gezielte Kontrolle nur von Asylberechtigten ohne konkreten Anlass begründet eine Diskriminierung, die als verfassungswidrig eingestuft werden muss.
Besonders perfide ist, dass anerkannte Flüchtlinge, die bereits persönliche Verfolgung in ihrem Heimatland erlebt haben, durch eine solche Maßnahme erneut viktimisiert würden. Dies würde nicht nur ihre Angst verstärken, sondern auch die Marginalisierung dieser Menschen weiter vorantreiben. Besonders besorgniserregend ist zudem die Frage, wie Kinder und Familien aus Syrien und Afghanistan behandelt werden würden – für sie wäre eine derartige Überprüfung ein noch schwerwiegenderer, unbegründeter und nachhaltigerer Eingriff in ihr Familienleben, sowie ihre Entwicklung (Verletzung der Art. 16 und Art. 6 der VN Konvention über die Rechte des Kindes; Art. 1 B-VG über die Rechte von Kindern). Hier ist insbesondere erschreckend, dass explizit auch „in Privatquartiere hineingeschaut werden soll“.[11] Eine solche (sprachliche) Übergriffigkeit ist aus menschenrechtlicher Sicht nicht tragbar. Nicht umsonst gewährt das österreichische Verfassungsrecht den eigenen vier Wänden besonderen Schutz.
Gegen anlasslose Massenüberprüfungen von Asylberechtigten in Österreich spricht neben diesen menschenrechtlichen und psychologischen Aspekten auch das in Artikel 18 Bundes-Verfassungsgesetz verankerte Legalitätsprinzip, wonach Behörden nur auf Basis klarer gesetzlicher Grundlagen handeln dürfen. Eine pauschale Überprüfung ohne konkreten Verdacht findet keine Deckung in den geltenden Gesetzen und würde daher dieses Prinzip verletzen. Massenüberprüfungen ohne konkreten Verdacht wären ein schwerwiegender Eingriff in die Rechte einer bestimmten Personengruppe. Die Verhältnismäßigkeit einer solchen staatlichen Maßnahme kann nur durch eine präzise, offen diskutierte Abwägung von Interessen von dem Schutz vor dem Privatleben und der Achtung der Sicherheit der Gesellschaft festgestellt werden, die dem Gesetzgeber vorbehalten bleiben muss.
Abgesehen von diesen eindeutigen verfassungs-, europa- und menschenrechtlichen Hindernissen ist auch die Sinnhaftigkeit derartiger anlassloser Massenüberwachungen in Zweifel zu ziehen. Unter Expertinnen und Experten für Terrorismusbekämpfung und -prävention herrscht Einigkeit über die Notwendigkeit, stärkere Kontrollen und strengere Regelungen für die großen Plattformen wie beispielsweise TikTok oder Youtube, wo sich die islamistischen Influencer:innen präsentieren, einzuführen.[12] Verstärkte Kontrollen in der “offline”-Welt sind weder rechtmäßig noch können sie das Problem der Radikalisierung, welche insbesondere bei jungen Menschen vorwiegend in den Sozialen Netzwerken stattfindet, lösen. Auch das Attentat in Villach, das von einem jungen Asylberechtigten verübt wurde, der sich nach eigenen Angaben binnen kurzer Zeit über „TikTok“ radikalisiert hatte, wäre durch solche Maßnahmen eher zu vermeiden gewesen als durch ohne konkrete Anhaltspunkte durchgeführte Kontrollen in Asylquartieren. Diese zweifelhafte Eignung zur Erreichung der angestrebten Ziele wirft zusätzliche Zweifel an der Verhältnismäßigkeit der geplanten Überwachung auf.
Um die österreichische Bevölkerung wirksam vor radikalisierten Straftätern zu schützen, erscheinen regulative sowie präventive Maßnahmen zielführender als ein bloß repressives Vorgehen der Sicherheitsbehörden. Naheliegend wären insbesondere verstärkte Aktivitäten im Bereich (gesamtschulischer) Medienkompetenzbildung im Umgang mit Social Media Plattformen und dort systematisch stattfindenden Radikalisierungsprozessen[13], von rechtsnationalen[14] und islamistischen[15] Strömungen. Zu empfehlen ist zudem eine Aufstockung von Unterstützungspersonal an Schulen, der Ausbau struktureller außerschulischer Zusammenarbeit, eine Ausfinanzierung von weiteren familienbegleitenden Maßnahmen, sozialarbeiterische Begleitung nach Haftentlassung, psychosoziale und therapeutisch ausfinanzierte Basisversorgung nach Psychiatrieaufenthalten sowie (online)-Streetwork[16] und eine generelle Ausrichtung auf das gute Zusammenleben.[17] Diese hier nur beispielhaft genannten Maßnahmen könnten auf Landesebene ohne Gesetzesänderungen und damit unverzüglich umgesetzt werden. Sie wären daher nicht nur menschenrechtskonform und verfassungskonform, sondern auch sofort konstruktiv wirksam.
Syrer, Afghanen, Ausländer oder Asylsuchende sind nicht die Ursache und Basis krimineller und terroristischer Problematiken.[18] Diese Menschen zu diffamieren ist kurzsichtig und inakzeptabel. Expertinnen und Experten warnen davor, dass sich jeder Mensch unabhängig von der ethnischen Zugehörigkeit radikalisieren kann. Anlasslose Massenüberprüfungen von Menschen ausgewählter Staatsbürgerschaften würden somit das Risiko der Radikalisierung von Menschen und die damit einhergehenden Attentate auch nicht verringern. Ganz im Gegenteil geht eine solche Vorgangsweise mit der Gefahr einher, dass die islamistische Propaganda dies als Bestätigung für den angeblichen Hass des Westens auf die muslimischen Menschen missbraucht.[19]
Auch aus psychologischer Sicht ist zuletzt zu bedenken, dass ein solches Vorgehen die innere Sicherheit und Ordnung nicht stärken, sondern langfristig sogar unterminieren kann. Denn sie schürt noch mehr Angst, da ein unverhältnismäßiges Vorgehen der Sicherheitsbehörden das subjektiv erlebte Sicherheitsempfinden eher mindert, z.B. weil gegenteilige Sicherheitserfahrungen – und das gegenseitige Kennenlernen – verhindert werden. Dass der Tod eines 14-jährigen Kindes ein Anlass ist, präventive Maßnahmen zu ergreifen, unterstützen wir dabei im Kern, wie wir ausdrücklich betonen möchten. Die Art und Weise erachten wir jedoch weder als zielführend noch als vereinbar mit den Rechten afghanischer und syrischer Menschen sowie mit den grundlegenden verfassungsrechtlichen Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und der Anerkennung der Grundrechte.
Wir ersuchen daher, insbesondere im 80. Jahr nach Ende des zweiten Weltkrieges, Abstand zu nehmen von kollektiven Verdächtigungen und die genannten Grundsätze der österreichischen Verfassung unbedingt einzuhalten. Menschenrechte sind unveräußerlich und unteilbar. Die Verantwortung für Straftaten liegt bei den individuellen Tätern, nicht bei ganzen Bevölkerungsgruppen. Der Sicherungs- und Resozialisierungsauftrag liegt in staatlicher Verantwortung. Zuletzt wäre auch angesichts der arbeitsmarktpolitischen und demografischen Herausforderungen in Österreich ein darüberhinausgehendes konstruktives sozialpolitisches Herangehen in Abstimmung mit dem Bund, über die innere Sicherheit hinaus, und auch nach Attentaten dieser Art, wünschenswert.
Mit der Bitte um Kenntnisnahme.
Hochachtungsvoll,
Mag.a Selina Oberortner BA, DDr. Philip Czech, Mag.a Susanne Kerschbaumer & Franziska Kinskofer MSc für
Antidiskriminierungsstelle der Stadt Salzburg,
Runder Tisch Menschenrechte der Stadt Salzburg,
Diakonie Flüchtlingsdienst Salzburg,
Plattform für Menschenrechte Salzburg
Informationen zu den Organisationen:
Die Anti-Diskriminierungsstelle in der Stadt Salzburg ist eine Anlaufstelle für Menschen, die sich in einem Lebensbereich diskriminiert fühlen. Das Ziel ist die (Wieder)Herstellung von Gleichbehandlung.
Der Runde Tisch Menschenrechte setzt sich als beratendes Expert:innengremium der Stadt Salzburg für eine Politik ein, die sich an der Wahrung der Menschenwürde und der Sicherstellung der Gleichberechtigung aller in der Stadt Salzburg lebender Menschen orientiert.
Der Diakonie Flüchtlingsdienst versteht sich als Menschenrechtsorganisation. Die Anwaltschaft für die Rechte von Menschen mit Flucht- und Migrationsgeschichte steht im Zentrum der Arbeit.
Die Plattform für Menschenrechte Salzburg ist ein überparteilicher, überkonfessioneller, transkultureller und organisationsübergreifender Zusammenschluss von Einrichtungen und Einzelpersonen im Salzburger Land. Das Ziel des Netzwerkes ist es, Menschenrechte regional zu schützen, weiterzuentwickeln und (potenzielle) Menschenrechtsverletzungen aufzuzeigen.
Ergeht auch an:
- Bundesminister für Inneres Mag. Gerhard Karner
- Salzburger Nachrichten
[1] Landesrat will schärfere Asylkontrollen nach Anschlag – salzburg.ORF.at
[2] Innenminister Karner: Zorn und Wut über „islamistischen Anschlag“ – DiePresse.com
[3] Ausländer Österreich Staatsangehörigkeiten 2025 | Statista
[4] OEIF_Factsheet_Afghanistan.pdf
[5] statistiken: Österreichischer Integrationsfonds ÖIF
[6] Einbürgerungen – STATISTIK AUSTRIA – Die Informationsmanager
[7] Karner kündigt Massenüberprüfungen von Syrern und Afghanen an
[8] Neues ÖIF-Factsheet: Zahlen, Daten und Fakten zu ausländischen Fachkräften in Österreich: Österreichischer Integrationsfonds ÖIF
[9] Terroranschläge Todesopfer Österreich 2025 | Statista
[10] Dies gilt auch für die unterschiedliche Behandlung von Personen nicht österreichischer Staatsbür-gerschaft (Artikel 1 des Bundesverfassungsgesetzes über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung).
[11] Landesrat will schärfere Asylkontrollen nach Anschlag – salzburg.ORF.at
[12] “Peter R. Neumann: Anschlag von Villach als Teil einer jihadistischen Welle” https://www.kleinezeitung.at/kaernten/villach/19370658/peter-r-neumann-anschlag-von-villach-als-teil-einer-jihadistischen (16.2.2025)
[13] Shin, D., & Jitkajornwanich, K. (2024). How Algorithms Promote Self-Radicalization: Audit of TikTok’s Algorithm Using a Reverse Engineering Method. Social Science Computer Review, 42(4), 1020-1040. https://doi.org/10.1177/08944393231225547
[14] Weimann, G. & Masri, N. (2020). Research Note: Spreading Hate on TikTok. Studies in Conflict And Terrorism, 46(5), 752–765. https://doi.org/10.1080/1057610x.2020.1780027
[15] Islamismus auf Tiktok: Wenn Prediger zu Influencern werden – Netzpolitik – derStandard.at › Web
[16] Digital Streetwork | Immer für dich da
[17] Jede vierte Person in Österreich hat einen Migrationshintergrund
[18] https://www.ifo.de/pressemitteilung/2025-02-18/mehr-auslaender-erhoehen-die-kriminalitaetsrate-nicht
[19] “Extremismusforscherin Pisoiu: „Jeder kann sich im Prinzip radikalisieren”, https://www.derstandard.at/story/3000000257587/extremismusforscherin-pisoiu-jeder-kann-sich-im-prinzip-radikalisieren (17.2.2025)



